
Mythos: Nährstoffabnahme in unseren Lebensmitteln
Alle 20 Jahre soll die Hälfte der Nährstoffe in unseren Lebensmitteln verloren gehen — Obst und Gemüse sollen längst nicht mehr so vitaminreich sein und der Vitamingehalt soll seit den 1970er rapide fallen. So eine von viele Aussagen auf einem Instagram-Account.
Wenn man diversen Accounts auf Instragam zu diesem breitgefächerten Thema folgt oder hin und wieder mal reinschaut, wir man oft mit derartigen Aussagen zur vermeintlichen Nährstoffabnahme konfrontiert. Dies reicht von Accounts, die Nahrungsergänzungsmittel vertreiben (als Affiliate oder im Network-Marketing 🔗) bis hin zu sogenannten Ernährungsberatern — oder mein Lieblingswort: Coaches ;-). Der Insta-Algorithmus spült einem so einiges in die Timeline.
Aber ist da wirklich etwas dran, wenn so viele darüber sprechen? Oder handelt es sich nur um ein Verkaufsargument, das genutzt wird, um durch Angstmache Zweifel zu säen?
Aussage: Alle 20 Jahre geht die Hälfte der Nährstoffe in Lebensmitteln verloren
Aaaand action … ich habe auf Instagram nach Details gefragt — ich habe hier und da auf Instagram mal nachgefragt und unterschiedlich “positives” Feedback erhalten,
Folgende Story einer Instagramer/in hat mich zu einer Nachfrage inspiriert — ich lasse den Account anonym und auch das Einzelprodukt (von PM International) unerwähnt, da es hier keine Rolle spielt. Letztlich steht es auch als Beispiel für viele Accounts, die größtenteils gleiche Vorlagen verwenden.
Zitat des Accounts:
“Alle 20 Jahre geht die Hälfte der Nährstoffe in Lebensmitteln verloren. Obst und Gemüse sind längst nicht mehr so vitaminreich wie früher. Laut der aktuellen Untersuchung fällt der Gehalt an Vitalstoffen seit den 70er-Jahren rapide ab.”
Der Austausch per Chat war daraufhin wie folgt:
Ich: Wo kann ich die aktuelle Untersuchung dazu finden?
Sie: Danke für dein Interesse. Wo kommst du her? Es gibt eine pdf Datei von unserem Gesundheitskonzept. Das könnte ich dir schicken. Du kannst auch gerne über meinen Link in der Bio auf die Seite der Firma gehen und dort informieren. Das Produkt heißt “xxx”. Wenn Du fragen hast melde dich gerne Liebe Grüße.

Quelle: Instagram-Chat (anonym)
Ich: Hallo, mich interessiert mehr die Studie zur Nährstoffabnahme … die muss ja auch öffentlich irgendwo vorhanden sein und ich suche noch.
Sie: Sorry ich kann dir da leider nicht helfen. Ich habe mit den Konzept tolle Resultate und das gebe ich weiter. Wir haben einen wissenschaftlichen Beirat aus Ärzte und anderen schlauen Köpfe. Du kann gerne auch per email den Beirat anschreiben und deine Fragen stellen .
Ich: Aber du beziehst dich doch in deiner Story da drauf?
Sie:https://www.rosenfluh.ch/media/ernaehrungsmedizin/2004/02/Waren-Fruechte-frueher-wirklich-naehrstoffreicher.pdf
Ich: Das kenne ich — hast du denn das Fazit gelesen? Besagt das Gegenteil von deiner Behauptung … Deswegen würde mich ja eine aktuelle Studie interessieren.
Sie: Mein Fazit ist das ich an unseren Lebensmittel merke das es ungenügend ist. Sonst wären nicht so viele Menschen krank und übergewichtig. Das ist schon lange bekannt das es unzureichend ist dem mit Pestiziden belastet. Jedem das seine . Ich habe gemerkt das ich meine Gesundheit durch NEM aufgestellt ist und es krasse Resultate sind. Einfach mal für sich überlegen ob du das brauchst oder nicht . Wenn du dich mit deiner Ernährung gut aufgestellt hast brauchst du dir doch keine Gedanken zu machen.
Zum verlinkten wissenschaftlichen Artikel (2004)
Die “Untersuchung” auf die die Instagramer/in verwiesen hat, kannte ich schon. Ich hatte hierzu schon vor einiger Zeit selbst mal recherchiert.
Es handelt sich hier um keine Studie, sondern um einen wissenschaftlichen Artikel zum vermeintlichen Phänomen der Nährstoffabnahme der Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin. Diesen Artikel gibt es ebenso für Gemüse.
Ich verlinke beide Artikel (aus 2004) hier noch einmal nachfolgend inkl. der Zusammenfassung bzw. Kernaussagen der Artikel.:
Waren Früchte früher wirklich nährstoffreicher?
Die Autoren analysierten Daten aus verschiedenen Zeiträumen und fanden heraus, dass die meisten Mineralstoff- und Vitamingehalte in Früchten über die Jahre weitgehend konstant geblieben sind. Eine signifikante Abnahme wurde nur bei Magnesium festgestellt (–3%), während Folsäure (168%) und Vitamin C (19%) zugenommen haben.
Die Studie widerlegt somit die weit verbreitete Annahme, dass moderne Früchte weniger nährstoffreich sind und betont, dass Früchte weiterhin einen wichtigen Beitrag zur Nährstoffversorgung leisten
War Gemüse früher wirklich nährstoffreicher?
Die Autoren analysierten Daten aus verschiedenen Zeiträumen und fanden heraus, dass die meisten Mineralstoff- und Vitamingehalte in Gemüse über die Jahre weitgehend konstant geblieben sind. Signifikante Abnahmen wurden bei Magnesium (–28%), Kupfer (–57%), Vitamin B2 (–30%) und Vitamin C (–22%) festgestellt.
Die Studie legt nahe, dass diese Abnahmen möglicherweise durch Fehler bei der Probenahme und Analytik verursacht wurden und nicht unbedingt auf eine tatsächliche Verschlechterung der Nährstoffgehalte hinweisen. Insgesamt bleibt Gemüse weiterhin ein wichtiger Bestandteil einer gesunden Ernährung.
Neuere Erkenntnisse (2024) — Nährstoffverlust in modernen Lebensmitteln?
Da die Infos der Instagramer/in doch recht veraltet schienen, habe ich noch mal selbst weiter recherchiert. Der Artikel auf derStandard.de 🔗 aus 2024 befasst sich mit dem Thema, ob moderne Lebensmittel tatsächlich weniger Nährstoffe enthalten als früher. Zu den jeweiligen Punkten hat der Artikel auch reichliche Verlinkungen zu Studien im Angebot — vorbeischauen lohnt sich also!
Hier sind die wichtigsten Punkte zusammengefasst:
1. Historische Vergleiche
Studien zeigen, dass viele moderne Lebensmittel weniger Nährstoffe wie Eiweiß, Kalzium, Phosphor, Eisen, Riboflavin und Vitamin C enthalten als vor Jahrzehnten.
Beispielsweise hat der Gehalt an Vitamin C in einigen Obst- und Gemüsesorten signifikant abgenommen.
2. Ursachen des Nährstoffverlusts
- Bodenqualität: Intensive Landwirtschaft hat zu ausgelaugten Böden geführt, die weniger Nährstoffe an die Pflanzen abgeben.
- Düngemittel und Pestizide: Der Einsatz von chemischen Düngemitteln und Pestiziden kann das natürliche Nährstoffgleichgewicht im Boden stören.
- Züchtung und Anbau: Moderne Züchtungsmethoden konzentrieren sich oft auf Ertrag und Aussehen statt auf Nährstoffgehalt.
- Lagerung und Transport: Längere Lager- und Transportzeiten führen zu einem Abbau von Nährstoffen in frischen Lebensmitteln.
3. Gesundheitliche Auswirkungen
Ein Mangel an wichtigen Nährstoffen kann zu verschiedenen gesundheitlichen Problemen führen, darunter geschwächtes Immunsystem, Müdigkeit und langfristig chronische Krankheiten.
Besonders betroffen sind Bevölkerungsgruppen, die sich hauptsächlich von verarbeiteten Lebensmitteln ernähren.
4. Gegenmaßnahmen und Empfehlungen
- Ernährung: Eine ausgewogene Ernährung mit frischen, möglichst unverarbeiteten Lebensmitteln wird empfohlen.
- Bio-Lebensmittel: Der Anbau und Konsum von Bio-Lebensmitteln kann helfen, die Nährstoffaufnahme zu verbessern, da diese oft in nährstoffreicheren Böden angebaut werden.
- Regionale Produkte: Der Kauf von regionalen Produkten reduziert die Lager- und Transportzeiten und kann somit den Nährstoffgehalt erhöhen.
Fazit des DerStandard-Artikels
Der Artikel hebt hervor, wie wichtig eine bewusste Ernährung und hochwertige Lebensmittel sind, um Nährstoffverluste auszugleichen. Nahrungsergänzungsmittel (NEMs) sind keine Allheilmittel und ersetzen keine ausgewogene Ernährung. Sie können bei Nährstoffmangel sinnvoll sein, bergen aber bei falscher Anwendung Risiken und sind nicht zur Krankheitsbehandlung gedacht. Eine abwechslungsreiche, frische Ernährung und ärztlicher Rat vor der Einnahme von NEMs sind wichtig.
Weitere Aussagen / Erkenntnisse
Bei meinen eigenen “Recherchen” bin ich über folgende Erkenntnisse gestolpert:
- Auf meine Nachfrage, ob denn regelmäßig die Blutwerte auf Nährstoffmangel überprüft werden, bekam ich die Antwort, dass dies nicht nötig sei, da ja doch die Produkte nur gering dosiert wären … eine Überdosierung wäre somit ausgeschlossen.
- Lustig fand ich eine Aussage, dass mein Arzt begeistert wäre von diesen Produkten — da musste ich innerlich doch ein wenig schmunzeln. Offensichtlich gibt es Ärzte der Aussage nach. Ich bin oft auf Heilpraktiker gestoßen. Selbsternannte Health-Coaches sind auch gern dabei.
- An einer anderer Stelle zu einem NEM-Produkt erwähnte ich, dass ich bereits Vitamin D hochkonzentriert nehme — auch hier erhielt ich die Aussage, dass die geringen Mengen keine Überdosierung verursachen würden.
- Auf der einen Seite finde ich Menschen mit einer bewussten Ernährung — zumindest den Teil den ich zu sehen bekomme in den öffentlichen Stories. Auf der anderen Seite sehe ich aber auch viele Menschen mit Junk-Food und einer Mix-Kiste mit Coca Cola, Fanta und Sprite im Hintergrund … Hmmm …
- Im oben erwähnten Beispiel erkennt man auch gut, dass teilweise Inhalte gepostet werden, ohne weitere Infos auf Nachfrage geben zu können/wollen im ersten Moment … oder besser noch: die dann doch erwähnte Untersuchung, wurde zwar für die Informationen herangezogen, aber am Ende aus dem Kontext gerissen. Oder oft eben auch veraltete Informationen.
- Auch werden die Aussagen übertrieben dargestellt — es werden nur die vermeintlichen dramatischen Verlustwerte dargestellt Es gibt Lebensmittel mit Nährstoffzunahmen oder alte Äpfelsorten, die höhere Nährstoffe enthalten — diese Tatsache bleibt unerwähnt. Und die Instagramer/in im Beispiel oben sendet einen Link zu einer Untersuchung, die ihren eigen Post kritisiert :-).
- Generell findet man derartige Aussagen / Listen auf entsprechenden Profilen oder Webseiten, welche Nahrungsergänzungsmittel verkaufen.
- Auch Nahrungsergänzungsmittel können stark verarbeitet sein und synthetisch oder gentechnisch produziert worden sein.
Fazit
Wer sich ausreichend abwechslungsreich ernährt und auch viel selbst zubereitet und das frisch, benötigt im Normalfall keine Nahrungsergänzung.
Der notwendige Hinweis auf den Nahrungsergänzungs-Produkten bestätigt es ja auch:
HINWEIS: Nahrungsergänzungsmittel sollten nicht als Ersatz für eine abwechslungsreiche und ausgewogene Ernährung und eine gesunde Lebensweise verwendet werden.
Ja, durch veränderte Landwirtschaft ändern sich auch Nährstoffinhalte — dies alle begründet aber keine Substituierung von Nährstoffen. Zielgruppen für derartige Nahrungsergänzungsmittel bleiben Bevölkerungsgruppen, die sich hauptsächlich von verarbeiteten Lebensmitteln ernähren. Und das passt dann leider oft auch ins Gesamtbild.
Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel: auch ich substituiere Vitamin D hochkonzentriert aufgrund einer Autoimmunerkrankung und damit einer chronischen Belastung meines Körpers — dies allerdings unter regelmäßiger Kontrolle meiner Blutwerte. Mit nur 300 IE pro Tag wäre ich allerdings in der Unterversorgung. Ich benötige aktuell die 9–10fache Menge pro Tag.
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung e.V. gibt einen Referenzwert von 20 μg pro Tag für Vitamin D bei fehlender Eigenproduktion an. Das entspricht 800 IE pro Tag. Die Versorgung über Ernährung sei zu gering, sofern der Körper nicht selbst Vitamin D produzieren kann. Im Einzelfall sind auch 800 IE pro Tag zu gering, aber für diese Spezialfälle ist eben dann der Arzt der richtige Ansprechpartner!
Nahrungsergänzungsmittel (generell) dieser Art bzw. mit derart geringen Dosierungen sind überflüssig, Das bestätigt mir die Instagramer/in ja sogar. Und die Informationen, die zum Kauf anregen sollen sind oft schlecht und rudimentär. Ich frage mich, ob ich wirklich mein Geld in derartige Artikel investieren würde im Normalfall, oder doch lieber in echte Lebensmittel zum Anfassen?
Das Ende der Geschichte: es ist ein Dienstagabend — ich bestücke nun meine “Gemüsekiste” für die frische Lieferung am Freitagmorgen und lege mir einen baldigen Termin für den Checkup meiner Vitalstoffe beim Arzt auf Termin. Gute Nacht!
Linksammlung – Quellen – Must-Reads
Nahrungsergänzungsmittel richtig verwenden — Verbraucherzentrale
Produkte von Fitline — Verbraucherzentrale Brandenburg
Natürlich, synthetisch oder gentechnisch — so werden Vitamine produziert — Verbraucherzentrale Baden-Würtemberg
PM-International — synthetisch Vitamine? — Verbraucherzentrale Baden-Würtemberg